Corona-Pandemie – Zwischen Freiheitsbestreben und sozialer Verantwortung

Veröffentlicht am: 30. Juni 2020

Ein Kommentar von Katharina Schilcher, Medizinstudentin und ehemalige Volontärin der Salesianer Don Boscos in Santa Cruz de la Sierra (Bolivien) sowie aktives Mitglied des Vereins BoliVIDA e.V.

Können wir nicht einfach wieder ohne Mund-Nasen-Schutz einkaufen gehen? Auch beim Zugfahren und im Eingangsbereich des Restaurants kratzt die Bedeckung unangenehm im Gesicht! Zunehmend steigt in Europa vielerorts der Unmut in Bezug auf die Vorkehrungen des Infektionsschutzes der Covid-19-Pandemie. Zunehmend werden Stimmen laut, die anzweifeln, ob diese Vorsichtsmaßnahmen überhaupt noch zu rechtfertigen sind. In anderen Ländern der EU finden jetzt schon wieder kleine Konzerte statt, die Maskenpflicht in Supermärkten wurde teilweise abgeschafft und es hat den Anschein, dass der Sommer 2020 vielerorts fast ein ganz normaler Sommer wie jeder andere ist. Hierzulande, vor allem im südlichen Teil Deutschlands, ist an solch große Veranstaltungen noch nicht zu denken, doch trotzdem verschwindet die Präsenz der Pandemie im Denken und Handeln vieler Bürger*innen. Eine gewisse Leichtfertigkeit und Ignoranz nehmen den Platz des Verantwortungsbewusstseins ein. Es scheint, als habe der persönliche Freiheitsdrang mittlerweile einen größeren Stellenwert als die Solidarität und Rücksichtnahme auf Ältere und Schwächere.

Doch vielleicht sollten wir über den Tellerrand der Länder des globalen Nordens hinausschauen und uns bewusstwerden, welches Ausmaß eine solche Pandemie in Ländern erreichen kann, die nicht über ein umfassendes Gesundheitssystem und ausreichende sozio-ökonomische Rücklagen verfügen. Wo Desinfektionsmittel nicht benutzt wird, weil es für die Bevölkerung unbezahlbar ist und nicht, weil es einen Mehraufwand darstellt. Wo man seine Hände nicht nur aus Faulheit nicht wäscht, sondern aus Mangel an fließendem Wasser. Wo die Leute nicht auf die Straße gehen, um gegen Sicherheitsvorkehrungen zu protestieren, sondern um auf die Mittellosigkeit von Ärzt*innen und Krankenpfleger*innen aufmerksam zu machen. Wo sich die Bevölkerung nicht an Ausgangssperren hält, weil sie „lieber am Corona-Virus als an Hunger stirbt!“ All das passiert derzeit beispielsweise in Bolivien, einem Land, dessen Gesundheitssystem schon nach wenigen Corona-Infektionen nahezu keine Kapazitäten mehr hatte.

Nicht nur die Behandlung der Covid-19-Infizierten ist unzureichend, sondern auch andere Bereiche der Medizin stoßen an ihre Grenzen. So wirkt sich die Überbelegung zum Beispiel auf die Behandlung von Krebskranken aus, die momentan in vielen Teilen des Landes keine Chemotherapie mehr erhalten. Der Grund hierfür ist, dass sich die ehemalige Regierung unter Evo Morales in den letzten 14 Jahren nicht um das Gesundheitssystem gekümmert hatte, sodass jetzt kein Zugang mehr besteht; und das nicht nur für die sozio-ökonomisch schwächeren Schichten des Landes: „Es gibt keine Kapazitäten mehr und zwar für niemanden. Es ist jetzt nicht mehr relevant, ob du viel Geld und eine private Versicherung hast oder ob du arm bist. Fakt ist, die Krankenhäuser sind voll und die Ärzt*innen ohne Mittel. Es existieren weder Schutzbekleidung und Desinfektionsmittel noch freie Betten und Beatmungsgeräte.“ Mit dieser Aussage einer ehemaligen Arbeitskollegin aus Santa Cruz wird klar, in welch gravierender Situation sich das Land gerade befindet.

Santa Cruz ist Boliviens Corona-Hotspot mit 73% aller landesweiten Infektionen. Diese Zahl muss man allerdings kritisch hinterfragen, denn man darf nicht von der hierzulande vorherrschenden Selbstverständlichkeit ausgehen, dass das Gesundheitssystem die Kosten für die Corona-Testungen trägt. In Bolivien muss jede*r Bürger*in selbst dafür aufkommen. Der Preis für einen Corona-Test beträgt dort 1000 bolivianische Pesos, umgerechnet 128 €, ein halbes bolivianisches Monatsgehalt. Dass dieser Betrag eine deutliche Senkung der Test-Rate zur Folge hat, scheint offensichtlich. Die Tatsache, dass Santa Cruz die reichste Stadt Boliviens ist und dort diejenigen Bürger*innen wohnen, die sich einen Corona-Test am ehesten leisten können, erklärt die 73% der Neuinfektionen. Allerdings zeigt sie auch auf, dass man mit einer hohen Dunkelziffer rechnen muss, denn in anderen Städten bzw. auf dem Land sind die Corona-Tests weiterhin eine Rarität. Die Dunkelziffer in Bolivien und einigen weiteren Ländern Südamerikas wird auf ca. das 15-Fache oder höher geschätzt.

Zudem lässt sich vor dem Hintergrund einer teilweise fehlenden Infrastruktur in ländlichen Gegenden erklären, dass sich wahrscheinlich sehr viele unentdeckte Infektionsgeschehnisse fernab von Krankenhäusern und Intensivstationen abspielen. Hierdurch entstehen weitere Problematiken. Einerseits werden Infektionen weder entdeckt, noch behandelt oder eingedämmt. Andererseits werden sie weiter in Gebiete indigener Völker getragen, deren Immunsystem zuvor nicht mit Keimen der städtischen Gesellschaft konfrontiert war und die deshalb noch mehr durch die Corona-Erkrankung gefährdet sind. Es scheint sich ein ähnlicher Prozess zu wiederholen wie vor knapp 600 Jahren, als die Entdecker der „neuen Welt“ Erkrankungen aus Europa mitbrachten, gegen die die indigene Bevölkerung keine Abwehrmechanismen hatte. Doch nicht nur indigene Stämme, sondern vor allem Bewohner*innen der Armen- und Arbeiterviertel der Städte, die dicht gedrängt in kleinen Häuschen leben und meist als Tagelöhner arbeiten, sind die „Opfer der Pandemie.“ Für sie gibt es – neben der fehlenden medizinischen Versorgung – nicht einmal die Möglichkeit, die Hygienemaßnahmen und Ausgangssperren zu befolgen. All diejenigen, die kleine Gebäcke, Blumen oder Kaugummis auf der Straße verkaufen, aber auch Bauarbeiter*innen und Busfahrer*innen leben von dem, was sie täglich verdienen. Ein Sparkonto oder ein Monatslohn existieren bei ihnen nicht. Wer in dieser Bevölkerungsgruppe tagsüber nicht arbeitet, hat abends kein Geld und die Familie nichts zu essen. Das Privileg einen Mund-Nasen-Schutz zu tragen gibt es häufig nicht, genauso wenig wie den Luxus von fließend Wasser und Desinfektionsmittel. Und wir? Wir wehren uns gegen die Maßnahmen, weil sie „schon echt ungemütlich sind.“

So scheint es, dass diese in Teilen sehr unterschiedlichen Rahmenbedingungen für die deutsche und bolivianische Bevölkerung trotzdem ähnliche Verhaltensweisen im Umgang mit dem Corona-Virus und den ergriffenen Maßnahmen zur Folge haben. Auf der einen Seite werden Regeln nicht befolgt, um das Überleben zu sichern, während auf der anderen – unseren – Seite Unbehagen und zunehmende Bequemlichkeiten ein häufiges Motiv darstellen. Wenn man sich diese Gegenüberstellung vor Augen führt, finde ich es geboten, dass wir die kleinen Alltagshürden befolgen, bevor es zu einer zweiten Infektionswelle kommt, die auch hierzulande viele Existenzen bedrohen würde.

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